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Kulturgut

Die Automobilindustrie im Murgtal

Über zwei Glücksfälle konnten sich die Bewohner der kleinen Murgtalgemeinde Gaggenau gegen Ende des 19. Jahrhunderts freuen: die Eisenwerke Gaggenau und der Orient-Express.

von Michael Wesel
Mo. 20. Juli 2020

Der Industrielle Michael Flürscheim kaufte 1873 das Gaggenauer Hammerwerk und entwickelte es zu den Eisenwerken Gaggenau und der Ingenieur Joseph Vollmer konstruierte und baute in Bergmanns Industriewerken ab 1894 seine Automobile mit dem klangvollen Namen „Orient-Express“.

Der erste Glücksfall

1873 kaufte der Frankfurter Industrielle Michael Flürscheim das Gaggenauer Hammerwerk mit nur 48 Mitarbeitern. Bereits im Gründungsjahr des neuen Unternehmens erhielt Flürscheim ein Patent für Vorrichtungen an Gasbrennern, die diese zu Selbstanzündern machten. Sie fanden auch Anwendung in Gasherden, die später ein ganz wesentliches Standbein des Produktionsprogramms werden sollten. Mit Theodor Bergmann holte sich Flürscheim 1880 einen Technikbegeisterten ins Werk und machte ihn 1884 zum Teilhaber. Die Mitarbeiterzahl stieg von 1880 bis 1888 von 150 auf über 1000. Dies auch dank Großaufträge für Emaille-Reklameschilder für Stollwerk, Maggi, Odol, Suchard und Tobler sowie für Automaten. Bei der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1888 schied Flürscheim aus und widmetet sich fortan seinen sozialreformerischen Projekten in aller Welt. Bergmann wurde alleiniger Direktor, musste aber 1893 das Unternehmen verlassen, da er den Aktionären wiederholt keine Dividende auszahlen konnte.

Bergmann hatte vorgesorgt und bereits ab 1890 im benachbarten Ottenau eigene Werkstätten errichtet und 1894 offiziell seine Bergmanns Industriewerke Gaggenau gegründet. 1905 wurde der Automobilbau unter Georg Wiß bei Bergmann Industriewerke ausgegliedert und unter der Firmierung „Süddeutschen Automobilfabrik GmbH“ und später den „Benzwerken Gaggenau“ zum heute ältesten Automobilstandort der Welt. Die Eisenwerke Gaggenau hingegen spezialisierten sich später auf Herde. Daraus entstand letztlich die heutige Nobel-Weltmarke GAGGENAU.

Der zweite Glückfall

1894 legte der damals 23-jährige Baden-Badener Ingenieur Joseph Vollmer seine Pläne für den Bau von Motorfahrzeugen dem Unternehmer Bergmann vor. Dieser beauftragte ihn mit den Detailzeichnungen und mit der Leitung der Produktion, die ab 1895 begann. Sein erstes Fahrzeug war ein 2- bis 3-sitziges Phaeton, ein offener Reisewagen, mit horizontalem Einzylindermotor von 6 PS und einem Riemenantrieb. Hierfür erhielt Vollmer vier Patente, darunter eine flammenlose Glührohrzündung. Er benannte die Fahrzeuge nach dem legendären Eisenbahnzug, der 1894 erstmals von Paris nach Konstantinopel fuhr. Bis zu seinem Verlassen der „Bergmanns Industriewerke“ 1897 entwickelte Vollmer in Gaggenau eine ganze Fahrzeugpallette, die vom Zweisitzer bis hin zum Lieferwagen und sogar zu einem ersten Lastwagen reichte. Die meisten Modelle hatten noch die Kutschenform. Es ist bewundernswert, was in den wenigen Jahren geschaffen wurde. Überall wurde technisches Neuland betreten.

Zum Jahresende 1897 wechselte Vollmer zum Wagenbauer Kühlstein nach Berlin als Teilhaber und als Leiter dessen neuen Fahrzeugsparte. Mit der Konstruktion eines „an jedes Fahrzeug montierbaren“ benzingetriebenen Automobil-Vorspanns, dem „Avant-Train“ erregte er weltweit Aufsehen und begründete gleichzeitig seinen Ruf als Pionier des Vorderradantriebs. Bei der ersten Internationalen Ausstellung für Motorwagen in Berlin im September 1899 konnte er für seinen Elektromobil „Mail-Coach“ seine erste Goldmedaille erringen – eine Auszeichnung, die sich auf der Pariser Weltausstellung 1900 gleich mehrfach wiederholte. Als 1902 die Allgemeine-Electrizitäts-Gesellschaft die Automobilabteilung von Kühlstein übernahm entwickelte Vollmer unter anderem den ersten Lastzug der Welt, den „Durch“, bevor er 1906 mit seinem Freund Ernst Neuberg die „Deutschen Automobil-Construktionsgesellschaft“ (DAC) gründete. Die DAC arbeitete sehr erfolgreich insbesondere für Unternehmen, die selbst kein eigenes Konstruktionsbüro unterhielten. In der Auflistung der Patente und Lizenznehmer findet man bekannte Namen im In- und Ausland und selbst die Motorenwerke Mannheim und die Daimler-Benz AG.

Im Ersten Weltkrieg wurde Vollmer 1915 von der Verkehrstechnischen Prüfungskommission damit beauftragt, sämtliche wichtigen Bestandteile der im Krieg verwendeten Last- und Personenwagen zu vereinheitlichen und so gilt er heute als Vordenker der DIN. Ende 1916 wurde Hauptmann Joseph Vollmer die Leitung der Konstruktion und des Baus des deutschen Panzerkraftwagen A7V übertragen. Trotz erheblicher Probleme in der Materialbeschaffung konnte der erste von zehn geplanten Panzer Ende Oktober 1917 fertiggestellt werden. 20 weitere wurden mit höchster Dringlichkeit beauftragt. Nur ein A7V mit dem Namen „Mephisto“, der von den Australiern erbeutet wurde, hat bis heute im Queensland-Museum in Canberra überlebt.

Anlässlich seines 80. Geburtstages erhielt Joseph Vollmer im Jahr 1951 das Bundesverdienstkreuz am Bande und der Verband der Motorjournalisten verlieh ihm den Dieselring. 1954 wurde er dann zehnter Empfänger der Goldene Diesel-Medaille des Deutschen Erfinderverbandes. Vollmer starb am 9. Oktober 1955 in einem Hotel in Braunschweig.

 

Das Kulturgut kehrt heim nach Gaggenau

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Fakten

Marke: Orient-Express

Baujahr: 1987

Form: Kutschenform

Fahrgestell-Nr.: 104

Leistung: 5,5 PS mit Einzylindermotor im Heck

Ausstattung: 3 Sitzplätze

Konstrukteur: Joseph Vollmer, Baden-Baden

Hersteller: Bergmanns Industriewerke Gaggenau

Besitzer: Stiftung Unimog-Museum Gaggenau

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Der Orient-Express

Das älteste bekannte Gaggenauer Automobil ist zurück an seinem Geburtsort. Gaggenau gilt als ältester Automobilstandort der Welt. Und dies auch, wenn es heute nur noch Aggregate sind, die hier gefertigt werden. 1895 wurden hier die ersten Automobile mit dem klangvollen Namen Orient-Express gebaut. Insgesamt waren es bis 1899 etwa 350. Mehr als 200 davon wurden nach England exportiert. Jetzt kehrte der Wagen Nummer 104 aus dem Jahr 1897 zurück an seine Geburtsstätte.

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