Menschen

Nationalpark Schwarzwald: Auf Spurensuche

Ein einziger Besuch im Nationalpark Schwarzwald reicht gar nicht aus, um die Vielfalt dieses Waldes zu fassen. Mal mystisch, mal strahlend – und immer spannend.

von Birgitt Hölzel Di. 05. Mai 2020
Es beginnt leicht zu nieseln, als ich mit einer kleinen Truppe von Naturfreunden mit Nationalpark-Rangerin Rike Schneider in den Wald laufe. Ein Wetter, das eigentlich eher einlädt zu heißem Tee als auf eine Tour in das Kerngebiet des geschützten Waldes: Die Regenjacken hochgeschlossen, die Kapuzen tief in die Stirn gezogen, die Wanderstiefel patschend in den Pfützen. Es dauert ein bisschen, bis ich mich einlasse auf das Wetter. Und den Zauber des Waldes entdecke.

Der tote Baum lebt

Wie weicher Tüll wabert der Nebel zwischen den Stämmen der Kiefern, Tannen und Buchen. Dunkel, still und ein bisschen surreal steht er da, der Wald. Wir haben den breiten Wanderweg „Wildseeblick“ in der Nähe des Ruhestein verlassen und nehmen im Gänsemarsch einen kleinen Pfad über Wurzeln und Steine. Hier, ab der ausgetretenen Pfade offenbart der Wald sein eigentliches Ich. Mein Blick schweift ins Unterholz, zu den Baumwipfeln, sucht den Himmel, der sich nicht zeigt. Kaum einer spricht. Ich genieße diese Ruhe. Da deutet Rike auf einen mächtigen Stamm, der neben dem Trampelpfad liegt. Wir alle wären achtlos daran vorbeigestiefelt.
 
„Schaut euch doch mal den toten Baumstamm genauer an“, fordert uns die 28-jährige Rangerin auf. Moos wächst drauf, Flechten haben sich breit gemacht und ein zwei Zentimeter großer Pilz mit rotbraunem Hütchen spitzt frech nach oben. Einer von dutzenden unterschiedlichen Pilzen, die den dicken Stamm langsam zersetzen werden. Kleine, zwei bis drei Millimeter große Löcher zeigen, dass sich Käfer und andere Insekten dort Unterschlupf oder Futter suchen. Das Holz ist morsch, hellbraun, bröckelig. Irgendwann wird es ganz zerfallen. So traurig es manchmal wirken mag, wenn ein alter Baum fällt und zerfällt, so wichtig ist Totholz für das Ökosystem Wald. Säugetiere wie der Siebenschläfer oder in Höhlen brütende Vögel – alle sind auf Totholz angewiesen oder profitieren davon. Auch unzählige Pilze, Insekten und Wirbellose leben vom und im Totholz. Insgesamt sind sogar rund 20 Prozent der hiesigen Waldlebewesen von Alt- und Totholz abhängig, erklärt Rike.
"Wildnis kennen wir kaum noch, denn die normalen Wälder sind Nutzwälder und somit aufgeräumt."
Rike Schneider

Im Bannwald

Rike liebt den Wald des Nationalparks. Vor allem den sogenannten Bannwald in der Kernzone, der seit gut 100 Jahren von Menschen unberührt ist und in den der Mensch auch heute nicht eingreifen darf. Ein faszinierender Urwald. „Mir gefällt das Chaos,“ sagt Rike. „Dass hier der Wald und nicht der Mensch das Sagen hat, umgestürzte Bäume und abgebrochene Äste einfach liegen bleiben dürfen.“ An ihrem Beruf als Rangerin mag die Baiersbronnerin, dass sie bei den Wanderungen ihr großes Wissen über Tiere, Pflanzen und Bäume an die Besucher des Nationalparks weitergeben darf. Mal wandert sie mit Kindern, mal mit Erwachsenen, mal ist sie auf Tierspurensuche, mal gibt sie Einblicke in die Ranger-Arbeit. Je nach Wanderung zaubert sie aus ihrem Rucksack ein Buch über den Schwarzwald, Bildmaterial von Pflanzen und typischen, aber scheuen Tieren wie dem Auerhahn oder Luchs sowie Modelle verschiedener Tiere. Eine Plastik-Kreuzotter ist sogar in Originalgröße dabei. Das Modell des Borkenkäfers misst stattliche zwölf Zentimeter – in echt ist er nur zwei, drei Millimeter groß. Der Riesenkäfer kommt bei der Wanderung zum Huzenbacher See zum Einsatz.

Die "Augen des Schwarzwalds"

Ein paar Tage später mache ich mit Rike eine Wanderung genau dorthin. In der wärmenden Morgensonne glitzert der Tau, die Bäume strahlen in hellem Grün, die Vögel rufen und zwitschern. Es ist erst sieben Uhr morgens. Der Huzenbacher See gehört zu den zehn sogenannten Karseen im Schwarzwald, die sich gebildet haben, als sich die letzte Eiszeit zurückgezogen hat. „Augen des Schwarzwalds“ heißen die kreisrunden Seen bei den Einheimischen. Jeder für sich ein einzigartiges, intaktes Biotop. Nur drumherum stimmt etwas nicht. Ich entdecke einige hellbraune Bäume fast ohne Nadeln: vom Borkenkäfer befallene Kiefern. Rike zückt ihr Borkenkäfermodell und streichelt es fast zärtlich. „Für einen Nutzwald mit Monokultur sind die Borkenkäfer katastrophal. Denn in Kieferwäldern verbreitet sich der Borkenkäfer blitzschnell von Baum zu Baum und zerstört so großräumige Waldflächen. Aber hier, in einem natürlichen Mischwald, steht der Borkenkäfer für viel mehr als Zerstörung.“ Der kleine Rüsselkäfer wird zwar auch hier die kleine Gruppe von Kiefern töten, dann aber ist er hilflos. Denn das Insekt kann keine langen Strecken zurücklegen. Ist die Nächste Kiefer nicht in Reichweite, stirbt auch der Schädling. So bleibt seine zerstörerische Kraft begrenzt. Ein Natürlicher Kreislauf, bei dem der Borkenkäfer weniger Zerstörer, als Hilfsarbeiter beim Verjüngungsprozess des Waldes ist.

Das Leben nach dem Sturm

Nicht nur die Entstehung nach der Eiszeit macht den Huzenbacher See spannend, auch die Gegensätze an seinen Ufern sind faszinierend: Auf der Westseite erhebt sich eine steile, mit mächtigen Tannen und Kiefern bewaldete Felswand. Die Ebene, die sich vom Ostufer aus erstreckt, ist ein skurriles Gestrüpp aus niedrigen Sträuchern und kleinen Bäumen. Sturm „Lothar“ ist schuld, als er 1999 durch den Schwarzwald fegte und an etlichen Stellen ganze Baumbestände entwurzelte und niederriss. Damals war das Waldgebiet noch nicht Nationalpark, also wurden die Baumstämme einfach entfernt. „Eigentlich kontraproduktiv, denn die Stämme und ausgerissenen Wurzelteller spielen eine wichtige Rolle im Ökosystem Wald. Dazwischen finden zum Beispiel Auerhähne oder Hasen Schutz und Futter“, erklärt Rike. Aber auch so keimt hier schon neues Leben. Wilde Blaubeersträucher sprießen und erste sogenannte Pionierbäume wie Kiefer, Eberesche, Vogelbeere und Birke keimen fleißig. und erobern sich ihren Wald zurück.  
Jetzt steht die Sonne schon hoch am Himmel. Im dunklen, moorigen Wasser des Huzenbacher Sees spiegeln sich die Bäume, Wolken und die laut quakenden Enten. Ein Anblick wie gemalt. Wie es hier wohl im Winter aussehen wird? Aber das ist eine andere Geschichte.

Kreislauf der Natur

Vom toten Baum zu neuem Leben

Stirbt ein Baum, bleibt er vorerst wie ein gesunder Baum stehen. Außer, wenn ein Sturm hinüberfegt und die Stämme bricht. Der Baum verliert nach und nach alle Blätter oder Nadeln, diese wachsen im Frühjahr auch nicht nach. Sogar die Rinde und Äste beginnen, abzufallen.
 
Im Laufe der Zeit wird der Baumstamm zudem bröckelig und porös. Das liegt an der Zellulose im Stamminneren, die abgebaut wird. Das ist übrigens auch der Stoff, woraus Papier gemacht wird. Auch die natürliche Witterung hat ihren Anteil am Verrottungsprozess des Baumes. In tropischen Gebieten zersetzt sich das Holz weit schneller als hierzulande!
Liegt der Baum erst einmal auf der Erde, wird auch der verbleibende Inhaltsstoff, das Lignin, abgebaut. Der Baum zersetzt sich weiter. Der Stamm wird hellbraun, bröckelig und - er erinnert an unsere Thunfischfilets aus der Dose. Deshalb haben die Jungranger aus Baiersbronn dieses Stadium "Thunfischholz" getauft. Die natürliche Witterung tut ihr übriges.
 
Moose, Flechten und Pilze breiten sich auf dem porösen Baum aus, dadurch finden auch viele Insekten Nahrung und Unterschlupf. Holzwespen bauen ihre Nester. Ohne die Insekten würde die Zersetzung des Baumes doppelt so lange dauern.
Andere Keimlinge beginnen, den Stamm zu zersetzen. Langsam holt sich die Natur den Baum zurück und die Nährstoffe landen in der Erde. Daraus entsteht der perfekte Nährboden für neue Setzlinge. Zwischen 20 und 100 Jahren kann der Verrottungsprozess dauern, abhängig von der Baumart.
 
Übrigens: Verrottet einen Baum, wird auch die von ihm gebundene Menge an CO2 wieder freigesetzt.
Birgitt Hölzel

Birgitt Hölzel lebt und arbeitet in München. Sie hat bereits in Medien wie „Freundin“ und „Handelsblatt“ veröffentlicht, war Mitgründerin der Magazine „Delikatessen“, „Haben & Sein“ und „Monte“ und Verfasserin des Kochbuchs „Das Leben ist schön lecker“. Schon als jugendliche Skifahrerin hat sie entdeckt, dass es auch im Schwarzwald sehr anspruchsvolle Pisten gibt – auf dem Feldberg.

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